BILDPODIUM XII

Karien Vervoort

Innen und Außen

Plastiken und Zeichnungen

 

Kunsthalle Erfurt

26. 6. – 3. 8. 08

 

„Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind.“ So berühmt der Satz des Protagoras auch ist, so selten wird er doch in seiner erkenntnisrelativistischen Dimension gewürdigt. Denn bedeutet wird damit nichts geringeres als der Umstand, dass wir die Welt nur durch die subjektive ‚Brille’ all unserer Bedürfnisse, Interessen, Sprechweisen, Wissenshorizonte, Zwecke etc. zu sehen (zu erkennen) in der Lage sind. Dabei wirkt unser kultureller Hintergrund notwendig als eine Art Filter, der alle möglichen eingehenden Daten scheidet in einen Teil, der uns wichtig ist und damit zur Information wird, wenn er unser Sensorium in Richtung Bewusstsein passiert, und einen anderen Teil, der (vorerst) ausgefiltert bzw. ausgeblendet bleibt. Moderne Kognitionstheorien sprechen davon, dass unser Realitätsbezug gerichtet ist, d. h., subjektiven Perspektiven von je bestimmten Standpunkten aus folgt, die durch kulturelle Paradigmen (im weitesten Sinne) geformt werden und diese auch weiter ausformen. Es gibt für uns also keine Möglichkeit des Zugangs zur Welt „an sich“ (Kants „Ding an sich“); sie erscheint uns vielmehr stets in der Form einer „Welt für uns“. Die im Prozess der unserer Welt-Anschauung gewonnenen inneren Bilder sind also keine Abbilder der Außenwelt, sondern konstruktive Leistungen des Gehirns – Modelle, die wir permanent schaffen und auch wieder verwerfen. Ein wichtiger Teil der modernen und zeitgenössischen Kunst widmet sich – wie auch die Bildhauerin Karien Vervoort – diesem Zusammenhang. Vorgestellt (ästhetisch repräsentiert ebenso wie imaginiert) werden hier nicht nur Vorgänge in der Welt, sondern unser gerichteter Blick auf die Welt, mithin das menschliche Maß des Protagoras.

 

Wenn Karien Vervoort plastische Formen aufbaut, um sie in Gips, Beton, Kunststoff oder Metall gießen zu lassen, dann entstehen Modelle. Diese Modelle, die sie mitunter auch „Denkmodelle“ nennt, konstituieren exemplarisch räumliche Verhältnisse – oft in der Weise geometrisch-bauender Ordnung: Inneres und Äußeres, Flächen, Reliefs und Durchbrüche, Blick- und Lichtachsen. Sie veranschaulichen konstruktive Verhältnisse wie die Addition, Durchdringung und Spiegelung geometrischer Körper und vollführen ein Wechselspiel der Größenverhältnisse, der Maßstäbe. Im Jahr 1988, sie hat gerade die Akademie in Amsterdam absolviert, positioniert sie im Park Beeckestijn von Velsen eine Arbeit aus Gusseisen und Cortenstahl mitten auf einem der Wege, dessen Blickachse blockierend und zugleich als Gegenstand der künstlerischen Bearbeitung aufgreifend. Zwischen zwei ornamental durchbrochenen Metallplatten, die in ihrer vertikalen Ausdehnung die Körperhöhe des Menschen aufnehmen, öffnen sich auf Bodenniveau zwei kleine, spiegelbildlich aufeinander bezogene und linearperspektivisch extrem verkürzte Raumsegmente nach außen, in Wegrichtung, und auch aufeinander zu, vermittelt durch je eine seitliche Lichtöffnung am Punkt des Zusammentreffens. Die vertikalen Öffnungen der Raumsegmente wirken wie Tore in den großen ornamentierten Flächen, doch sind sie so klein, dass man auf die Knie gehen muss, um durch sie hindurchschauen zu können. Sie „kanalisieren“ den Blick, richten ihn zu und erzwingen zugleich einen Maßstabswechsel – real und in der Vorstellung. Die Arbeit reflektiert auf komplexe Weise die der Parkgestaltung zugrunde liegenden menschlichen Ordnungsmuster. Der Mensch ist das Maß auch dieser Form von Welt. Verschiedene kleinere Raum-Modelle, aufgesockelt, mit Durchblicken und perspektivierenden Blickführungen, bereiten zwischen 1987 und 1989 diese Metallplastik im öffentlichen Raum vor. Zwei geometrische Kubaturen, die sich mit perspektivisch verkürzten Durchblicken zu einem strengen Rhythmus der Symmetrien verbinden, erinnern 1989 über ihren Titel „Boogie Woogie“ an den Ahnherren der holländischen Abstraktion, Piet Mondrian, und dessen in New York entstandenes Spätwerk. Während es Mondrian jedoch um die theosophisch motivierte Suche nach grundlegenden, ursprünglichen Formen und Wirkungen ging, zeigt uns Karien Vervoort, dass Formwirkungen nur in Beziehung auf den Menschen, seinen perspektivischen Blick auf die Welt, auf sein Maß hin sinnvoll bestimmbar sind. Daran messen sich alle wahrnehmbaren Richtungsbeziehungen und Bewegungsrhythmen. Folgerichtig vollziehen ihre Plastiken den Wechsel von Maßstäben auch als symbolischen Wechsel des Gebrauchszusammenhangs. Aus einer Form, die einem Stück Möbel entlehnt ist, kann so ein Stück Architektur werden, aus einem architektonischen Modell (eines Hauses, eines Tempels) ein Weltmodell, das auf Planetenbahnen oder asiatische Mandalas rekurriert. Bezeichnend ist auch, dass Sie einem aktuellen Metallguss den Arbeitstitel „Das Ich“ gab, bevor sie dieses plastische Objekt mit drei Schauseiten, Reliefs, Durchbrüchen und einem innenliegenden Spiegel schließlich „Eindreiheit“ nannte, in bewusster Anlehnung an den Begriff „Trinität“. Der Mensch mit seiner Benutzeroberfläche hin zur Welt, mit seinem Vermögen, ein „Ich“ zu umhausen und damit nach Außen abzugrenzen, und seiner Fähigkeit zur Reflexion der Umgebung bildet hier symbolisch das Eine („ein und alles“). Ein Sockel bringt dieses „Ich“ auf Augenhöhe zu potenziellen Betrachtern – der rechte Maßstab für jeglichen Dialog. Die Gestalt einer Tür oder eines Schrankes bilden Varianten in der weiteren „Beschreibung“ des eigen Standpunktes, an denen die Künstlerin augenblicklich arbeitet.

 

Auf diese und ähnliche Weise entfaltet Karien Vervoort kontinuierlich ein freies Spiel mit verschiedenen Blickperspektiven, wechselnden Maßstäben und figürlichen Assoziationen, welches vor allem eines bewusst macht: den eigenen Standpunkt als Betrachter, als Welt-Anschauender und Welt-Interpret.

 

Dr. Kai Uwe Schierz 

Eindrücke vom BILDPODIUM XII "Innen und Außen" Plastiken und Zeichnungen